Schüler*innen würdigen Opfer der Euthanasie aus Wetter (Ruhr)
„Ich habe gewusst, dass Menschen im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden“, erzählt Mervan Bingöl, der gemeinsam mit weiteren Schüler*innen des BBW, der Schule am See und des GSG im Stadtarchiv zu Menschen aus Wetter (Ruhr) recherchieren, die aufgrund ihrer Behinderungen zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur im Rahmen der Euthanasie ermordet wurden. Was Mervan erst durch die Arbeit im Archiv so richtig bewusst wurde: „Dass die Menschen so kategorisiert wurden und dann aufgrund dieser Einteilung bewusst ermordet wurden.“
Dieses gemeinsame Rechercheprojekt des Berufsbildungswerkes Volmarstein, der Sekundarschule und des Geschwister-Scholl-Gymnasiums geht nach der Premiere im Vorjahr nun in die zweite Auflage. Begleitet wird das Vorhaben von der Initiative „WetterWeltoffen“ der Stadt Wetter (Ruhr). Und auch jetzt sind die jungen Leute wieder mit viel Engagement bei der Sache.
Begrüßt werden sie auch von Bürgermeister Hans-Günter Draht, der sich vom Engagement der Jugendlichen sehr beeindruckt zeigt: „Ihr zeigt hier einen großen Einsatz, um bisher nicht gewürdigte Schicksale von Bürgerinnen unserer Stadt bekannter und öffentlich zu machen. Das macht nicht nur die Geschichte viel anschaulicher, als man sie in Lehrbüchern darstellen kann, sondern Ihr hellt auch ein wichtiges Kapitel unserer Stadtgeschichte auf. Vielen Dank für eure Recherche!“
Nach einer historischen Einführung von Stadtarchivarin Stephanie Pätzold lesen die Schüler*innen Zeitungsartikel der Wetterschen Zeitung aus den Jahren 1933 und 1934, sehen sich NS-Propagandaplakate an, recherchieren biographische Daten und diskutieren miteinander. Es geht um das sogenannte Erbgesundheitsgesetz im Dritten Reich und um Opfer der Euthanasie, also um Menschen, die in der nationalsozialistischen Diktatur aufgrund ihrer Behinderung ermordet wurden.
Das am 1. Januar 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ legte die Basis für Zwangssterilisierungen und die Ermordung von Menschen mit Behinderungen. Erzwungene Abtreibung, ein Ehe- und Berufsverbot gehörten zu den Grausamkeiten der Verfolgung. Auch tausende von Kindern und Jugendlichen gehörten zu den Opfern.
Ein Artikel der Wetterschen Zeitung vom 26. Juli1933 berichtet über das geplante Gesetz:
„Seit der nationalen Erhebung beschäftigt sich die Öffentlichkeit in zunehmenden Maße mit den Fragen der Bevölkerungspolitik und dem dauernd zunehmenden Geburtenrückgang“. In heute kaum noch zu ertragenden Worten heißt es dort weiter: „Es ist aber nicht nur der Rückgang der Volkszahl, der zu den schwersten Bedenken Anlass gibt, sondern im gleichen Maße die mehr und mehr in Erscheinung tretende Beschaffenheit der Erbverfassung unsers Volkes. Während die erbgesunden Familien größtenteils zum Ein- oder Keinkinder-System übergegangen sind, pflanzen sich unzählige Minderwertige und erblich Belastete hemmungslos fort, deren kranker und asozialer Nachwuchs der Gesamtheit zur Last fällt.“
Was in der Zeit des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Eugenik und der sogenannten NS-Rassehygiene als die „Vernichtung unwerten Lebens“ bezeichnet wurde, war über Jahrzehnte ein gesellschaftliches Tabuthema in Deutschland. Umso bedeutsamer das Engagement der jungen Menschen aus der Harkortstadt.

Die jungen Leute erarbeiteten während ihrer Zeit im Archiv kurze Abrisse mit den Lebensdaten von Menschen, die in Wetter (Ruhr) lebten und schließlich in über das Deutsche Reich verteilten Kliniken gezielt getötet wurden. Eine dieser Kliniken lag im hessischen Hadamar.
Es geht dabei um Menschen wie Martha M. aus Grundschöttel und Irmgard M, die in Essen geboren wurde und ab dem Jahr 1926 in den damals sogenannten „Krüppelanstalten“ in Volmarstein lebte.
Martha M. litt nach einer Operation unter Stimmungsschwankungen und gab an, Stimmen zu hören. Sie wurde mit 21 Jahren als „Geisteskranke“ in die Heilanstalt Eickelborn aufgenommen. Nach vielen Jahren in der Anstalt, wo sie u.a. Elektrobehandlungen und Zwangsbäder über sich ergehen lassen musste, wurde sie im Jahr 1942 in ihrer Krankenakte als „ausgebrannte Schizophrene“ bezeichnet und wurde über Scheuern bei Nassau schließlich nah Hadamar verlegt, wo sie am 21. Januar 1943 angeblich an Grippe verstarb, tatsächlich aber im Alter von 37 Jahren ermordet wurde.
Und wie beurteilen die Schüler*innen die Recherchen zu diesem belastenden Thema?
„Irmgard M. lebte wie ich heute auch in Volmarstein. Das macht die Recherche schon belastend, aber auch sehr anschaulich“, erzählt Rieke Schmoll vom GSG. „Natürlich weiß man, was damals alles in Deutschland geschah“, meint ihre Mitschülerin Clara Stracke. „Aber zu sehen, was hier bei uns in Wetter passiert ist, macht das viel anschaulicher und konkreter. Man fragt sich dabei ja unwillkürlich auch, was hätte passieren können, wenn wir damals gelebt hätten?“
Irmgard M. erkrankte im Alter von sechs Monaten an Kinderlähmung und lebte ab 1926 in den „Krüppelanstalten“ in Volmarstein. Im Jahr 1940 attestierte man ihr „Geisteskrankheit“; daraufhin wurde sie in die „Heilanstalt“ Dortmund-Aplerbeck verlegt. Über die Klinik auf dem Eichberg (Eltville) wurde Irmgard M. schließlich mit einem Sammeltransport nach Weilmünster verlegt, wo sich ihr Zustand weiter verschlechterte. Im Oktober 1944 wurde sie schwerkrank wieder nach Eichberg zurückverlegt, wo sie – vermutlich wie viele weitere Opfer durch verhungern lassen – ermordet wurde. In der offiziellen Sterbeurkunde hieß es dazu verschleiernd „Siechtum bei Zustand nach Gehirnentzündung.“
Mitte Dezember unternehmen die Jugendlichen gemeinsam mit ihren Lehrern und Stadtarchivarin Stephanie Pätzold noch eine Tagesexkursion zur heutigen Gedenkstätte Hadamar.

Bild: Die Schüler*innen mit Vertreter*innen der beteiligten Schulen und Bürgermeister Hans-Günter Draht. Foto: Stadt Wetter (Ruhr)
