Schüler*innen recherchieren zu Opfern der NS-Zeit aus Wetter (Ruhr)
Schüler*innen lesen Zeitungsartikel der Wetterschen Zeitung aus den Jahren 1933 und 1934, sehen sich NS-Propagandaplakate an, lauschen den Worten der Stadtarchivarin, recherchieren biographische Daten und diskutieren miteinander. Es geht um das sogenannte Erbgesundheitsgesetz im Dritten Reich und um Opfer der Euthanasie, also um Menschen, die in der nationalsozialistischen Diktatur aufgrund ihrer Behinderung ermordet wurden.
Das am 1. Januar 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ legte die Basis für Zwangssterilisierungen und die Ermordung von Menschen mit Behinderungen. Auch erzwungene Abtreibung, ein Ehe- und Berufsverbot gehörten zu den Grausamkeiten der Verfolgung. Auch Tausende von Kindern und Jugendlichen wurden gezielt ausgehungert, mit Medikamenten zu Tode gespritzt oder vergast.
Ein Artikel der Wetterschen Zeitung vom 26. Juli 1933 berichtet über das geplante Gesetz:
„Seit der nationalen Erhebung beschäftigt sich die Öffentlichkeit in zunehmenden Maße mit den Fragen der Bevölkerungspolitik und dem dauernd zunehmenden Geburtenrückgang“.
In heute kaum noch zu ertragenden Worten heißt es dort weiter: „Es ist aber nicht nur der Rückgang der Volkszahl, der zu den schwersten Bedenken Anlass gibt, sondern im gleichen Maße die mehr und mehr in Erscheinung tretende Beschaffenheit der Erbverfassung unsers Volkes. Während die erbgesunden Familien größtenteils zum Ein- oder Keinkinder-System übergegangen sind, pflanzen sich unzählige Minderwertige und erblich Belastete hemmungslos fort, deren kranker und asozialer Nachwuchs der Gesamtheit zur Last fällt.“
Bei diesem Recherche-Projekt kooperieren drei wettersche Schulen miteinander, das Werner Richard Berufskolleg, die städtische Sekundarschule am See und das Geschwister-Scholl-Gymnasium.
Bürgermeister Frank Hasenberg war bei einem der Termine im Stadtarchiv vor Ort und begrüßte die Schüler*innen: „Vielen Dank für euer Engagement! Das ist gerade in einer Zeit umso wichtiger, in der Geschichtsvergessenheit und rechte Parolen immer mehr an Fahrt gewinnen. Es verdient viel Respekt, dass ihr Euch bei diesem Projekt und diesem harten Thema so engagiert und für uns alle Informationen zu einem Thema erarbeitet, das immer noch viel zu wenig angesprochen wird. Dafür möchte ich euch auch den Dank des Rates übermitteln“. Zudem freue es ihn besonders, „dass ihr hier gemeinsam inklusiv zusammenarbeitet“, so Hasenberg weiter. Begleitet wird das Vorhaben von der Initiative „WetterWeltoffen“ der Stadt Wetter (Ruhr).
Das Projekt geht zurück auf die Ausstellung „Behinderung im Wandel der Zeit. Diskriminierung und Verfolgung von Menschen mit Behinderung“, die in der Martinskirche in Volmarstein gezeigt wurde. Auf Anregung des Beirates für Menschen mit Behinderung hat sich dieses Schulprojekt entwickelt, auch Stadtarchivarin Stephanie Pätzold forscht zu dem Thema „Opfer der NS-Zeit in Wetter (Ruhr)“.
Was in der Zeit des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Eugenik und der sogenannten NS-Rassehygiene als die „Vernichtung unwerten Lebens“ bezeichnet wurde, war über Jahrzehnte ein gesellschaftliches Tabuthema in Deutschland. Umso bedeutsamer das Engagement der jungen Menschen aus der Harkortstadt.
Die Recherche der Schüler*innen im Stadtarchiv begann zunächst mit einer Führung durch das Archiv und einer allgemeinen Einführung in das Thema Euthanasie. Danach verteilte Stephanie Pätzold Zeitungsartikel aus den Jahren 1933 und 1934 aus der Wetterschen Zeitung und gab den Jugendlichen ein paar Leitfragen mit auf den Weg: „Wie werden Menschen mit Behinderung dort dargestellt? Wie wird über sie gesprochen? Wie wird über Erbgesundheit gesprochen?
„Diese Recherche ist interessant und spannend“, erzählt Ziya, Schüler des Werner Richard Berufskollegs, und fügt hinzu, dass er überrascht war, „wie groß das Archiv ist und dass es hier so viele Akten gibt.“ Isabell, Schülerin des GSG, ergänzt: „Mit diesem Projekt bekommen wir einen spannenden Einblick in frühere Zeiten.“
Ein zweiter Teil der Recherche fand dann zur „Biographiearbeit“ statt. Hier erarbeiteten die jungen Leute kurze Abrisse mit den Lebensdaten von Menschen, die in Wetter (Ruhr) lebten und schließlich in über das Deutsche Reich verteilten Kliniken gezielt getötet wurden. Eine dieser Kliniken lag im hessischen Hadamar.
Es geht dabei um Menschen wie Wilhelm Wilke, der 1892 in Wetter (Ruhr) geboren wurde und im Juli 1941 in Hadamar – einer der sechs Euthanasie-Tötungsanstalten im Deutschen Reich, ermordet wurde. Die Patientenakte und Sterbeurkunde wurden vernichtet. „Es gibt erstaunlich viele Menschen, die in Wetter (Ruhr) lebten und Opfer der Euthanasie in der NS-Diktatur wurden“, erläutert Stadtarchivarin Stephanie Pätzold. „Manchmal haben wir leider nur noch wenige Daten wie bei Wilhelm Wilke.“
Ein anderes Beispiel ist Elisabeth Kappenstein, die in der Litzmannstraße, heute Friedrichstraße, wohnte. Sie wurde aufgrund einer Altersdemenz zunächst zwangsweise in die „Provinzialheilanstalt“ nach Eickelborn eingeliefert und schließlich in der damaligen „Heil- und Pflegeanstalt“ Kaufbeuren-Irsee ermordet.
„Im Rahmen der Recherche zu Frau Kappenstein bekam ich Kontakt zu ihrem Urenkel, der zufällig gerade zu seiner Familie recherchierte; er war daraufhin auch einige Male hier bei uns im Stadtarchiv“, so Pätzold. In den Akten, die die Schüler*innen im Stadtarchiv recherchierten, finden sich auch berührend zu lesende Schreiben des Sohnes von Frau Kappenstein, der sich in mehreren Briefen an die Anstaltsleitung in Eickelborn nach dem Gesundheitszustand seiner Mutter erkundigte.
Anfang Januar unternehmen die Jugendlichen gemeinsam mit ihren Lehrer*innen und Stadtarchivarin Stephanie Pätzold noch eine Tagesexkursion zur heutigen Gedenkstätte Hadamar.